Bundesverfassungsgericht: Leistungskürzungen für Geflüchtete verfassungswidrig

Flüchtlingsrat fordert vollständige Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Seit 2019 werden die Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Asylsuchende und Geduldete in Sammelunterkünften um zehn Prozent gekürzt. Begründet wird diese Kürzung damit, dass die Betroffenen als „Schicksalsgemeinschaft“ wie Ehepartner*innen „aus einem Topf“ zusammen wirtschaften und dadurch Geld sparen würden (Bundestagsdrucksache 19/10052 S. 24). Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Diese Praxis ist verfassungswidrig!

In seinem aktuellen Urteil stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass weder im Gesetzgebungsverfahren noch im verfassungsrechtlichen Verfahren hinreichend tragfähig dargelegt wurde, dass durch gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften tatsächlich Einsparungen erzielt werden können.

Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren

Das Bundesverfassungsgericht betont, dass ein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum nicht durch migrationspolitische Erwägungen gerechtfertigt werden könne. Ob Deutschland durch ein möglicherweise im internationalen Vergleich hohes Leistungsniveau einen Migrationsanreiz schaffe oder nicht, sei verfassungsrechtlich irrelevant. Denn „die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Das heutige Urteil zeigt ganz klar, dass die Menschenwürde für alle Menschen in Deutschland gleichermaßen gilt. Der Flüchtlingsrat begrüßt, dass migrationspolitisch motivierten Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz und Kürzungen ohne Faktenbasis eine klare Absage erteilt wird.

Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen

Das Urteil bestärkt nicht zuletzt die bisherige Kritik am Asylbewerberleistungsgesetz. Seit Jahren forderen Pro Asyl und die Landesflüchtlingsräte die Abschaffung dieses diskriminierenden Gesetzes. Die Bundesregierung versprach in ihrem Koalitionsvertrag eine Überarbeitung des Asylbewerberleistungsgesetzes „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“. Geändert wurde bislang jedoch nichts.

„Das heutige Urteil ist ein Erfolg im Kleinen – dennoch gilt mit dem Asylbewerberleistungsgesetz in Deutschland nach wie vor ein Gesetz, welches gegen die Verfassungsgrundsätze der Menschenwürde, des Sozialstaatsprinzips und des Gleichheitsgebots, gegen die UN-Kinderrechtskonvention und das Menschenrecht auf Gesundheit verstößt. Wenn die Bundesregierung es mit dem Schutze der Menschenwürde ernst meint, muss dieses Gesetz endlich abgeschafft werden“, so Ulrike Seemann-Katz, Vorsitzende des Flüchtlingsrats Mecklenburg-Vorpommern.

Wichtig für die Praxis

Auch das LSG Mecklenburg-Vorpommern hatte bereits im vergangenen Jahr die aktuelle gesetzliche Regelung für verfassungswidrig befunden. Das Land hatte in der Praxis jedoch bislang weiter abgesenkte Leistungen ausgereicht.

Das Gericht verfügte mit seinem heutigen Urteil die Gewährung ungekürzter Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 ab sofort. Dies gilt auch rückwirkend, soweit gegen entsprechende Kürzungen noch fristgemäß Widerspruch oder Klage eingelegt wird oder wurde. Das Urteil bezieht sich formal nur auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, ist aber nach rechtlicher Einschätzung von PRO Asyl auf die noch geringeren, ebenfalls um zehn Prozent gekürzten Leistungen nach §§ 3/3a AsylbLG für Alleinstehende in Sammelunterkünften übertragbar, gegen die daher jetzt ebenfalls Widerspruch und Klage eingelegt werden sollte.