Die Bundesregierung macht sich unglaubwürdig, wenn sie die Abschiebung nach Afghanistan von Deutschland aus aussetzt, dann aber über diese Kettenabschiebung ermöglicht.
Mindestens eine Person, die am 13.06. nach Oslo überstellt wurde, ist inzwischen bereits wieder in Afghanistan.
Dazu ein Artikel in der SZ vom 26. Juni 2017:
Von Moritz Geier und Bernd Kastner
Der für Mittwoch [Anm.: 28.06.2017] geplante Abschiebeflug abgelehnter Flüchtlinge nach Afghanistan ist nach Informationen der Süddeutschen Zeitung abgesagt worden. Vorgesehen war, dass vom Flughafen Leipzig aus unter anderem Straftäter nach Kabul geflogen werden. Der Flug soll aber zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die Bundesregierung habe den Transport nicht aus Sicherheitsbedenken verschoben; vielmehr sei die Arbeitsfähigkeit der deutschen Botschaft in Kabul nach dem schweren Anschlag Ende Mai noch nicht hergestellt, die Mitarbeiter dort könnten die Abschiebung nicht logistisch begleiten, berichtet der Spiegel. Innenministerium und Auswärtiges Amt wollten die Absage nicht bestätigen oder kommentieren.
Die Bundesregierung hatte Abschiebungen nach Afghanistan bislang damit gerechtfertigt, dass es in dem Land „sichere Gebiete“ gebe, in denen abgeschobene Asylbewerber unterkommen könnten. Nach dem Sprengstoffanschlag am 31. Mai nahe der deutschen Botschaft in Kabul mit mehr als 150 Toten hatte sie jedoch entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan vorläufig weitgehend auszusetzen. Für Straftäter, Gefährder und Menschen, die ihre Identität nicht preisgeben wollen, gilt der Abschiebestopp allerdings nicht. Bis Juli will das Auswärtige Amt die Sicherheitslage in Afghanistan nun neu bewerten. Die Abschiebungen stehen wegen der prekären Sicherheitslage in dem Land seit Monaten in der Kritik.
Viele Familien bleiben getrennt, weil die Botschaft in Kabul keine Visumanträge bearbeitet
Die Beschädigung des deutschen Botschaftsgebäudes verhindert derzeit auch, dass Visumanträge zur Einreise nach Deutschland bearbeitet werden können. Dadurch bleiben viele Familien auseinandergerissen. Auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Linke) heißt es aus dem Auswärtigen Amt, dass in Kabul 1500 bis 2000 unbearbeitete Visumanträge lägen. Etwa die Hälfte davon beträfen Zusammenführungen von Familien. Aus Sicherheitsgründen sei ein Zugang zu diesen Unterlagen „noch auf unbestimmte Zeit nicht möglich“. Mit einer Wiederaufnahme der Bearbeitung sei „kurz- bis mittelfristig nicht zu rechnen“, so Staatssekretär Michael Roth. Zwar prüfe das Auswärtige Amt „intensiv“, ob die Visa von deutschen Botschaften in Nachbarstaaten Afghanistans bearbeitet werden könnten, doch realistisch erscheint dies nicht: Um die deutsche Botschaft in Pakistan zu erreichen, bräuchten Afghanen erst ein Visum.
Als „unerträglich“ kritisiert Jelpke den aktuellen Zustand. Gerade der Familiennachzug, auf den es in der Regel einen Rechtsanspruch gebe, dürfe nicht weiter verzögert werden: „Die Familienangehörigen sind oft gefährdet und leben unter höchst prekären Bedingungen.“ Dasselbe gelte für sogenannte Ortskräfte, also Afghanen, die etwa für die Bundeswehr gearbeitet haben. „Die Bundesregierung muss hier sofort Abhilfe schaffen, statt auf langfristige Lösungen für die Visumbearbeitung zu verweisen“, fordert Jelpke.
Zu Diskussionen führt unter Asylhelfern ein Abschiebeflug vom 13. Juni – knapp zwei Wochen also, nachdem die Bundesregierung die Abschiebungen nach Kabul gestoppt hatte. 41 Asylbewerber, offenbar vorwiegend Somalier und Afghanen, wurden von Deutschland nach Oslo ausgeflogen und an die norwegischen Behörden überstellt; viele hatten in Mecklenburg-Vorpommern gelebt. Die Asylbewerber seien „illegal“ in die Bundesrepublik eingereist, erklärte das Amt für Migration und Flüchtlingsangelegenheiten in Mecklenburg-Vorpommern, weil sie zuvor in Norwegen bereits Schutz beantragt und in Deutschland versucht hätten, ein weiteres Asylverfahren zu durchlaufen. Das aber erlaube die Dublin-Regelung nicht, die Rückführung beruhte somit auf europäischem Recht.
Was den Fall jedoch brisant macht: In Norwegen gilt kein Afghanistan-Moratorium, große Teile des Landes sind nach Ansicht der norwegischen Behörden sicher, auch die Hauptstadt Kabul. Afghanen haben nur sehr geringe Chancen auf Asyl in Norwegen; und im Gegensatz zu Deutschland schieben die norwegischen Behörden auch Familien mit Kindern nach Kabul ab. Das in Norwegen zuständige Amt für Immigration sagte der SZ, dass die Mehrheit der 41 zurückgeschickten Asylbewerber in Norwegen bereits ihre Verfahren vollständig durchlaufen hätten. Diejenigen, deren Asyl abgelehnt wurde, würden nun in ihre Heimatländer zurückgebracht – auch die Afghanen.
Deutschland, Norwegen, Afghanistan: Eine Abschiebung über Umwege sei das, findet die fraktionslose bayerische Landtagsabgeordnete Claudia Stamm. Rechtlich könne man den Behörden zwar nichts vorwerfen, sagte sie, „aber inhaltlich ist das natürlich eine Farce.“ Auch Ulrike Seemann-Katz, Sprecherin des Flüchtlingsrats Mecklenburg-Vorpommern, kritisiert die Bundesregierung: Sie mache sich „unglaubwürdig, wenn sie die Abschiebung nach Afghanistan von Deutschland aus aussetze, dann aber über diese Kettenabschiebung ermögliche“.
Das Innenministerium in Mecklenburg-Vorpommern verweist auf das Dublin-Verfahren. Die Landesregierung habe in diesen Fällen „keine Kenntnis über das weitere Verfahren im zuständigen EU-Mitgliedstaat“. Dass Norwegen die Sicherheitslage ganz anders einschätzt, spielt offenbar keine Rolle. Die Entscheidung über „eine mögliche Abschiebung nach Afghanistan ist abschließend durch den zuständigen Mitgliedstaat zu treffen und liegt nicht im Einflussbereich Deutschlands“, so ein Sprecher.